Medien-Preis 2023
"Klimapolitik braucht Vertrauen in die Menschen, die Unternehmer und die Kraft der freien Marktwirtschaft"
Sehr geehrte Damen und Herren,
mit ihren Beiträgen über die gegenseitigen Abhängigkeiten von Innovation und Geopolitik, Energiewende und Standortsicherung, Krieg und Unternehmertum sowie nicht zuletzt Gaumenfreuden und Cheat-Days, spannen die prämierten Beiträge heute wieder einmal einen weiten Bogen an Themen, auf die Sie sich freuen dürfen. Und ich glaube, Sie werden dabei auch Neues lernen, obwohl Sie sich mit manchen Themen sicher schon lange beschäftigen. So hat die Aufmerksamkeit für den Klimaschutz und für Fragen der Ökologie in den vergangenen Jahren stetig zugenommen. Es gibt einen großen gesellschaftlichen Konsens darüber, dass der Klimawandel ein Faktum ist. Und die allermeisten Menschen teilen die Einschätzung der Wissenschaft, dass sich die Erdtemperatur in den letzten Jahren durch das Verbrennen fossiler Energieträger Schritt für Schritt erhöht hat und weiter erhöhen wird. mehr ...
Die Preisträger
Der Herbert Quandt Medien-Preis 2023 geht an:
- Marc Neller und Benedikt Fuest für ihren Report „Die Herren des Lichts“, erschienen in der Welt am Sonntag
- Erik Hane für seine Dokumentation „Blackout in Deutschland – Horrorszenario oder reale Gefahr?“, ausgestrahlt im ZDF
- Maximilian Münster für seine Reportage „Rostige Aussichten“, veröffentlicht in brand eins
- Thilo Adam für sein Unternehmer-Porträt „Wer isst denn sowas?“, erschienen in Die Zeit
Rund 250 Einreichungen hat die Johanna-Quandt-Stiftung 2023 erhalten. Der Preis ist mit insgesamt 50.000 Euro dotiert.
Wir gratuliert allen Preisträgern ganz herzlich!
12.500 Euro Preisgeld für Marc Neller und Benedikt Fuest
- Stefan Quandt (Jury), Marc Neller, Benedikt Fuest
Marc Neller und Benedikt Fuest werden für ihren Report „Die Herren des Lichts“, erschienen am 15.05.2022 in der Welt am Sonntag, mit dem Herbert Quandt Medien-Preis 2023 ausgezeichnet.
Computerchips sind die wohl wichtigsten Bauteile der Weltwirtschaft. Wir benötigen sie, um unser technisiertes Leben zu organisieren, um elektronische Geräte zu produzieren, um zu kommunizieren. Doch Chips sind knapp, Herstellungskapazitäten und Know-How extrem umkämpft.
In „Die Herren des Lichts“ ergründen Marc Neller und Benedikt Fuest einen Wirtschafts-Sektor von größter geostrategischer Bedeutung. Die USA und China wetteifern um die Vormachtstellung. Und mittendrin ein niederländischer Anlagenbauer mit seinen deutschen Partnern, ohne deren tonnenschwere und hunderte Millionen Euro teure Hightech-„Lichtmaschinen“ fast kein Chip-Fertiger auf der Welt auskommt.
Mit sprachlicher Finesse und detaillierten Erklärungen machen Marc Neller und Benedikt Fuest drei weitgehend unbekannte europäische Hidden-Champions sichtbar, deren einzigartige, seit über zwei Jahrzehnten währende Zusammenarbeit Grundlage für technische Innovation, Wohlstand, aber auch Macht ist. Durch intensive Recherche und gründliche Vorbereitung erhielten die Journalisten Zugang zu einer Industrie, die ihre Betriebsgeheimnisse streng hütet.
- Laudator Stefan Quandt
Hochtechnologie und Geopolitik
Nach einer Studie der Beratungsfirma Crunchtime und der Universität Hohenheim bereiten geopolitische Konflikte den DAX-Unternehmen derzeit die größten Sorgen: In 83 Prozent der Risikoberichte dieser börsennotierten Unternehmen ist – sicher nachvollziehbar – die Geopolitik der Risikofaktor Nummer eins.
Mitten hinein in einen geopolitischen Konflikt führt uns auch der Report „Die Herren des Lichts“ des Autorenduos Neller und Fuest – allerdings handelt es sich hier um eine Art Stellvertreterkonflikt auf dem Gebiet der Hochtechnologie.
Neller und Fuest spannen einen Bogen von der Mikroebene dreier Hightech-Firmen – ASML, Zeiss und Trumpf – bis zur Makroebene des ganz großen globalen Wirtschaftsgefüges. Und es wird deutlich, welche Bedeutung ASML, der Hersteller von Belichtungsmaschinen, für die großen Chipfertiger hat – die ja viel häufiger im Rampenlicht der Öffentlichkeit stehen, vor allem dann, wenn sie wie Intel oder TSMC am Standort Deutschland investieren wollen. Die niederländische ASML hat einen Weltmarktanteil von 80 Prozent und greift in der Fertigung zurück auf deutsche Präzisionsprodukte: Die Laser kommen von Trumpf, die Spezialspiegel liefert Zeiss.
Und hier ist sie beim Lesen zu greifen, die eingangs erwähnte „Innovationskraft der Industrie“:
Zusammen schaffen die drei Unternehmen in jahrelanger, grenzüberschreitender Kooperation eine komplett neue Fertigungstechnologie, die es so und in dieser Präzision vorher nicht gab. Und dabei verlässt man sich aufeinander, denn wenn eines der drei Unternehmen sein jeweiliges Entwicklungsziel nicht erreicht hätte, hätte es das Endprodukt nicht gegeben.
Aber zwölf Jahre und Hunderte Millionen Euro Entwicklungskosten später machen sie die niederländische Firma zu dem, was im Artikel salopp so auf einen Nenner gebracht wird:
„ASML ist die global bedeutendste Firma, von der die Welt noch nie gehört hat.“
Das ist technologische Systemrelevanz, an der ganze Hightech-Nationen mit zahllosen chipbasierten Produkten und Lösungen hängen. Und die natürlich auch bei einem Systemkonkurrenten wie China große Begehrlichkeiten weckt: China hat die Produktion von Mikrochips ganz oben auf seine industriepolitische Agenda „Made in China 2023“ gesetzt – und kämpft mit harten Bandagen, sprich mit Cyberangriffen und Spionageversuchen, um das Know-how von ASML. Und dies bereits bevor die USA mit ihrer aktiven, in vielfacher Hinsicht „polarisierenden“ Außen- und Wirtschaftspolitik einen Exportstopp nach China erwirkt haben.
Marc Neller und Benedikt Fuest beschreiben das alles mit viel Insiderwissen, aber auch in der gebotenen Allgemeinverständlichkeit. Etwa, wie die Ingenieure bei Trumpf das ultraviolette Licht formen können. Und so bleibt ihnen der Leser beim Rundgang durch die hochgesicherten Reinräume der Werkshallen eng auf den Fersen – stellenweise aber auch atemlos, so faszinierend ist das Ganze. Und man versteht Schritt für Schritt, warum diese Technologie so kostbar ist, dass EU und Bundesregierung gewaltige Fördersummen für ihre Weiterentwicklung genehmigen. Und so bedeutend, dass Neller und Fuest sie mit der Erfindung des Internets und der Mondlandung vergleichen.
Ja, und schließlich ist da noch die enorme Faktentiefe, die den Lesern auf sehr plastische Weise präsentiert wird. So schildern Neller und Fuest die schier unglaublich komplizierte Struktur von Computerchips mit einer beeindruckenden Beiläufigkeit – ich zitiere:
„86 Milliarden Transistoren bringen die Laserscanner der neuen Generation von ASML auf Siliziumplatten von der Größe eines Daumennagels unter.“
Und ein besonderer Glücksfall ist es, wenn nicht nur die Journalisten, sondern auch die Protagonisten des Artikels geniale Erklärer sind. So wie Thomas Stammler, der Technikvorstand von Zeiss. Der beschreibt die Leistungsfähigkeit seiner Spiegel in einem ganz lapidaren Satz:
„Stammler sagt, wenn die Oberfläche seiner Spiegel so groß wäre wie Deutschland, dann wäre die größte Abweichung von der idealen Form eine Unebenheit von einem Zehntelmillimeter.“
Apropos ideale Form: Der Report „Die Herren des Lichts“ kommt einer solchen schon sehr, sehr nahe! Sprachliche Finesse, Anschaulichkeit und intensive Recherche gehen hier eine großartige Verbindung ein – das Ergebnis ist zwar nicht Hightech, aber ein journalistisches Produkt der Extraklasse.
- Marc Neller, Benedikt Fuest
Marc Neller:
Mit Dankesreden von Preisträgern ist es ja manchmal wie mit einer IT-System-Auffrischungsschulung in der eigenen Firma:
Muss sein, man sieht es ein. Aber dann kippt einem der Kopf halt doch schwer zur Seite, wenn der Preisträger irgendwann bei Minute 32 angelangt ist – und bei der 83. entfernten Verwandten, der er wirklich noch ganz, ganz herzlich danken muss.
Wir versprechen Ihnen: Wir hören spätestens beim Verwandten Nummer 82 auf. Und wir machen es deutlich unter 32 Minuten.
Wir dachten, es kann in einer Zeit der vielen schlechten Nachrichten nicht schaden, wenn wir Ihnen ein paar gute mitbringen. Wir haben heute drei:
- Die erste: Eine Vorhersage ist eingetroffen.
- Die zweite: Es gibt etwas, das langweilige Wörter in Krimis verwandeln kann.
- Die dritte: Eine derzeit große Hysterie ist womöglich zumindest verfrüht.
Lieber Herr Quandt,
als ich im Sommer 2017 schon einmal hier auf dieser Bühne stand und mir in meinem Anzug ähnlich warm war, da hatten Sie gerade eine Rede gehalten, in der es um rasanten technologischen Fortschritt ging. Unter anderem um KI, Künstliche Intelligenz. Sie sagten, sie wünschten sich zweierlei: dass der Mensch sie als Chance begreifen möge wie das Internet. Und andererseits verantwortungsvoll die Gefahren immer mitdenkt, die Möglichkeiten des Missbrauchs.
Wenn man diese Rede heute liest, kann man sagen: Sie bildet ziemlich genau die Debatte ab, die die Welt nun aufgeregt führt. Seit nämlich die Sprachsoftware ChatGPT ein Massenpublikum fasziniert. Und auch verängstigt.
Die tröstliche Erkenntnis darin: Es gibt Dinge, die sich vorhersagen oder zumindest erahnen lassen. Also kann man sich darauf vorbereiten. Das heißt: Auch Manager und Politiker können sich darauf vorbereiten. Menschen also, deren Aufgabe es ist, die Rahmenbedingungen für technologischen Fortschritt zu definieren. Und zwar so, dass er dem Menschen dient, nicht umgekehrt. Ob das immer passiert, ist dann eine andere Frage. Wir finden trotzdem, dass das erst einmal eine gute Nachricht ist.
Das bringt uns, zweitens, zu unserer Geschichte: dem Report „Die Herren des Lichts“, den sie heute auszeichnen.
Er handelt von drei Firmen, die in Jahrzehnten – zwischenzeitlich im Angesicht des Scheiterns – eine Technologie entwickelt haben, ohne die Künstliche Intelligenz und die Rechenleistung von solchen Geräten (zeigt iPhone) kaum denkbar wären.
Die Idee zu unserer Recherche begann im Grunde mit einem Wort, das in der Coronazeit plötzlich in sehr vielen Nachrichten vorkam: Halbleitermangel.
Halb-leiter-mangel!
Das klingt erst einmal so elektrisierend wie der Beginn einer Tagesschau-Meldung in den 1970er-Jahren: „Bonn. Wie Bundeskanzler Helmut Kohl am Mittwoch mitteilte ...“
Oder wie: „Führende Experten der Flamingofutterforschung kommen an diesem Wochenende zu ihrem ersten Grundlagenkongress zusammen.“
Auf was wir hinauswollen: In welchem anderen Job könnte man so lange und so ausdauernd Fragen stellen, selbst die ahnungslosesten, bis aus einem gähnend langweiligen Wort eine spannende Geschichte wird? Ein Wirtschaftskrimi mit weltpolitischer, geostrategischer Bedeutung?
Die gute Nachricht Nummer zwei ist also:
Reporter ist einer der besten, spannendsten Berufe der Welt!
Ich persönlich finde: der beste.
Unsere dritte und letzte gute Nachricht ist diese: Künstliche Intelligenz mag schlauer geworden sein, die Fortschritte sind rasant. Aber wenn man ehrlich ist: So richtig schlau ist sie bisher trotzdem noch nicht.
Ihr unterlaufen haarsträubende Fehler. Und sie kann sehr, sehr langweilig sein. Das heißt: Sie wird noch lange keinen Menschen ersetzen. Nicht jedenfalls, wenn Kreativität, eigenständiges Denken oder Empathie gefragt sind.
Und das bringt uns zurück zu unserem Ausgangspunkt: den Preisträgerreden. Wir haben nämlich ChatGPT beauftragt, einen Entwurf für diese Dankesrede zu schreiben.
Sie dürfen selbstverständlich von uns und unserer Rede hier halten, was Sie mögen. Aber glauben Sie uns: Mit dem Entwurf von ChatGPT wären Ihnen die Füße eingeschlafen. Er war gewissermaßen das LinkedIn unter den Preisträger-Reden.
Also, vielleicht sehen wir uns ja in einigen Jahren wieder hier und jemand hat sich auf diesen Abend so vorbereitet: „Siri, sag ChatGPT, es soll eine ähnlich irre Rede halten wie Fuest und Neller auf der Quandt-Preisverleihung 2023.“
Wir sind sehr gespannt, was dabei herauskäme.
In der Zwischenzeit freuen wir uns sehr über den Preis, auf diesen Abend und interessante Gespräche mit Ihnen.
Herzlichen Dank!
12.500 Euro Preisgeld für Erik Hane
- Tanit Koch (Jury), Erik Hane, Stefan Quandt (Jury)
Erik Hane erhält den Herbert Quandt Medien-Preis 2023 für seine am 01.08.2022 im ZDF ausgestrahlte Dokumentation „Blackout in Deutschland – Horrorszenario oder reale Gefahr?“.
Kann ein Industrieland ausschließlich mit grünem Strom problemlos produzieren? Ist die Netzsicherheit trotz volatiler Systeme wie Sonnen- oder Windenergie gewährleistet, oder droht möglicherweise ein großflächiger Ausfall?
Erik Hane unternimmt in „Blackout in Deutschland“ eine nüchterne Bestandsaufnahme der Chancen und Risiken der angestrebten Energiewende, die einen tiefgreifenden Umbau der deutschen Volkswirtschaft erfordert. Dabei gelingt es Hane, die komplexen wirtschaftlichen, technischen und politischen Zusammenhänge gut nachvollziehbar aufzubereiten und darzustellen.
Seine Dokumentation gerät zu einem Stück Aufklärungsjournalismus, das auf Zuspitzungen verzichtet und stattdessen auf der Basis solide recherchierter, wissenschaftsbasierter Fakten die Zuschauer in die Lage versetzt, sich ihr eigenes Bild zu machen.
- Laudatorin Tanit Koch
"Eine hochspannende Doku über Hochspannung"
… und ich würde gern mit einer Frage beginnen, an Sie alle: Wer hier im Raum hat ein Notstromaggregat bei sich zu Hause? Ok, wenige Prepper unter uns.
Aber ich könnte mir vorstellen, dass Sie noch in Kauflaune geraten – nachdem Sie folgenden Beitrag gesehen haben: Einen Film über Erik Hane, den zweiten Preisträger des heutigen Abends, und über seine ZDF-Dokumentation: “Blackout in Deutschland – Horrorszenario oder reale Gefahr?”
Ein Blackout ist ein großflächiger, lang anhaltender Stromausfall. Ich habe im Februar Bekanntschaft damit gemacht, nicht hier, sondern in Spanien. Es hatte geschneit.
Wir waren daraufhin fünf Tage ohne Strom – eine Erfahrung, die man nicht unbedingt gemacht haben muss. Und natürlich hatten wir kein Notstromaggregat. Wenn ich die Doku von Erik Hane damals nicht schon gekannt hätte, hätte ich – vorurteilsbehaftet – gedacht: Naja, Spanien halt. Zypressen sind schließlich auch nicht dafür geschaffen, große Schneelasten zu tragen – die krachen dann eben auf Strom-Leitungen.
Ich hatte den ZDF-Film allerdings gesehen und wusste: Wir wiegen uns in Deutschland in einer Sicherheit, die trügerisch ist.
Erik Hanes Doku hat polarisiert. Und ich ahne, was sich die WISO-Redaktion des ZDF an Vorwürfen anhören musste – “Panikmache, Sie verunsichern die Bevölkerung”, gehört zum Standardrepertoire der Medienkritik.
Ich weiß nicht, wie es Ihnen geht. Ich persönlich bin lieber verunsichert und informiert, als dass ich uninformiert, aber sicheren Schrittes in die Dunkelflaute tappe.
Vor allem aber hat Journalismus nicht die Aufgabe, Menschen ein Sicherheitsgefühl zu vermitteln. Und – wie wir ja gesehen haben: Das Geschäft mit den Notstromaggregaten brummte schon, bevor das Filmteam anrückte.
Journalismus soll aufklären. Und genau das zeichnet Erik Hanes Doku aus. Es ist schon beeindruckend, wie viele Informationen zu einem hochkomplexen Sachverhalt in 43 Minuten passen, wenn jemand etwas von seinem Handwerk versteht. 43 Minuten sind eigentlich ein Wimpernschlag, wenn man sich die Breite des Themas Energiewende vor Augen führt.
“Blackout in Deutschland” macht gewissermaßen eine Energie-Inventur in der Industrienation – zu Netzfrequenz, Speicherkapazitäten und Gigawattstunden. Die Dokumentation ist eine ungemein dichte, faktenverliebte und gleichzeitig fesselnde Bestandsaufnahme der Chancen und Risiken der Energiewende. Es ist eine hochspannende Doku über: Hochspannung.
Sie erklärt die technischen, ökonomischen und politischen Zusammenhänge unserer Energieversorgung, ohne sich dabei auf eine Seite zu schlagen. Und sie erzeugt Verständnis für die Bedürfnisse von Unternehmen, ohne die Notwendigkeit des Wandels in Abrede zu stellen.
Erik Hane veranschaulicht die Dimension der Herausforderung ebenso eindringlich wie leidenschaftslos – die Leidenschaft überlässt er einigen seiner Protagonisten.
Darunter sind echte Highlights. Patrick Graichen, zum Beispiel, damals noch unbelastet von seinem Family-, Friends- und Trauzeugen-Klüngel und deshalb noch Staatssekretär. Wir haben ihn eben gesehen, mit der Aussage: “Natürlich schaffen wir das, weil wir ein anderes Mindset haben.”
Anders als möglicherweise Herr Graichen, verliert die Doku dabei zu keinem Zeitpunkt aus den Augen, dass Energie auch noch etwas mit Physik zu tun hat. Und nicht nur mit Mindset. Sie tut das – anders als ich gerade – ohne Zuspitzungen, ohne Polemik und ohne, wie es neudeutsch so schön heißt, das richtige Framing.
Damit komme ich noch zu einem weiteren Verdienst von Erik Hane und seinem im ZDF ausgestrahlten Dokumentarfilm. Es ist keine Leistung, die sich explizit in den Kriterien des Herbert Quandt Medien-Preises findet. Sie liegt aber jedem am Herzen, der weiß, wie essentiell Journalismus für unsere Demokratie und unser Gesellschaftsmodell ist. Sie haben im Film gerade Herrn Professor Harald Schwarz gesehen, Inhaber des Lehrstuhls für Energieverteilung und Hochspannungstechnik an der Brandenburgischen Technischen Universität Cottbus-Senftenberg. Und sie haben seine Überraschung gehört, “dass sich das ZDF traut, einen solchen Film zu senden.”
Als Journalistin muss ich bei einer solchen Aussage schlucken – wenn etwas als mutig empfunden wird, das völlig selbstverständlich ist, nämlich: kritische Berichterstattung zu betreiben.
Professor Schwarz steht mit seiner Überraschung, so befürchte ich, aber keineswegs allein da. Und deshalb ist die Doku “Blackout in Deutschland” auch eine vertrauensbildende Maßnahme. Dank Erik Hane und der ZDF-Redaktion schafft diese Doku Vertrauen, nicht notwendigerweise in politisches Handeln – aber in den Journalismus, in diesem Fall den öffentlich-rechtlichen Journalismus, der in letzter Zeit ja nicht selten mit dem Vorwurf “Staatsfunk” zu kämpfen hat.
Wenn Sie sie noch nicht gesehen haben: Die Doku ist online weiterhin verfügbar und heute noch so aktuell wie zum Zeitpunkt ihres Entstehens. Unsere sehr einhellige Jury-Meinung lautet: “Blackout in Deutschland” ist Aufklärungsjournalismus der besten Sorte, der, solide recherchiert und anschaulich erzählt, die Zuschauer in die Lage versetzt, sich ihr eigenes Bild zu machen. Dafür zeichnen wir Erik Hane mit dem Herbert Quandt Medien-Preis 2023 aus. Herzlichen Glückwunsch!
- Erik Hane
Ich bin außerordentlich glücklich, dass ich den renommierten Herbert Quandt Medien-Preis für den Film „Blackout in Deutschland – Horrorszenario oder reale Gefahr?“ heute Abend entgegennehmen darf. Und – das können Sie mir glauben – ich bin noch glücklicher, dass wir im letzten Winter keinen Blackout hatten.
Als wir für den Film anfingen zu recherchieren, war das Thema Blackout ja noch gar nicht so sehr ins öffentliche Bewusstsein gerückt. Auch nach dem Angriff Russlands gegen die Ukraine hieß es noch lange Zeit: Wir haben ein Gasproblem! Wir haben kein Stromproblem!
Insofern bin ich der ZDF-Redaktion Umwelt sehr dankbar, dass sie das Thema trotzdem als außerordentlich relevant eingestuft hat. Denn es bestand bei diesem Filmtitel ja durchaus ein gewisses Risiko, dass man der Dokumentation Übertreibung oder sogar Panikmache vorwerfen könnte.
Dass das Risiko für einen Blackout aber zumindest gestiegen ist, wurde mir während der Dreharbeiten bei einem Stromnetzbetreiber bewusst. Dort überwachen speziell ausgebildete Ingenieure die Netzstabilität des Stromnetzes. Grob vereinfacht gesagt steuern sie, dass genau so viel Strom in die Netze kommt, wie in diesem Moment von Industrie und Haushalten verbraucht wird. Sonst könnte es im schlimmsten Fall einen Blackout geben.
Wir waren also gerade dabei, die Kamera für das Interview aufzubauen, und die Pressedame erzählte im Vorgespräch, dass die Energiewende zwar herausfordernd, aber schon irgendwie händelbar sei – als einer dieser bestens ausgebildeten Ingenieure, die eben für die Netzstabilität zuständig sind, ungefragt erzählte, er habe sich jetzt einen Notstromgenerator für den Winter gekauft. Er wolle auf Nummer sicher gehen. Und er könne die Netze schließlich auch nur stabil halten, wenn genügend Strom erzeugt würde.
Sie können sich vorstellen: Es gab eine große Aufregung bei der Pressedame. Sie versuchte den Ingenieur zu beschwichtigen. Aber der Fachmann blieb standhaft bei seiner Meinung.
Dass wir die Energiewende beherzt angehen müssen, steht außer Frage. Und richtig ist auch, dass uns die Zeit davonläuft, um gegen die Klimaerwärmung vorzugehen. Aber diese Anekdote von unseren Dreharbeiten zeigt auch, dass es keinen Sinn macht, den zweiten Schritt vor dem ersten Schritt zu tun – also einen Plan zu haben, wann man Kraftwerke abschaltet, aber keinen Plan zu haben, wie dann ausreichend grüne Energie für Haushalte und Industrie erzeugt und gespeichert werden kann.
Stattdessen sollten wir die Debatte um die Energiewende versachlichen und wieder mehr auf die Wissenschaft hören. Und natürlich kann auch jeder einzelne von uns durch sein Verhalten seinen Teil dazu beitragen, dass weniger CO2 in die Atmosphäre gelangt.
Ganz herzlichen Dank, meine Damen und Herren!
12.500 Euro Preisgeld für Maximilian Münster
- Michaela Kolster (Jury), Maximilian Münster, Stefan Quandt (Jury)
Maximilian Münster wird für seine Reportage „Rostige Aussichten“, veröffentlicht am 22.12.2022 in brand eins, mit dem Herbert Quandt Medien-Preis 2023 geehrt.
Mit dem Krieg in der Ukraine hat sich nicht nur das Leben der Menschen vor Ort dramatisch verändert, auch die Unternehmen sind massiv betroffen. Viele müssen ihre angestammten Produktionsstätten im Osten des Landes verlassen. Die Regierung in Kiew hat hierfür eigens ein Umsiedlungsprogramm aufgelegt.
Maximilian Münster blickt aufmerksam hinter die Kulissen eines Herstellers von Getreideanhängern, der mit viel Improvisationstalent den Wirren des Krieges trotzt und sich weder von Raketenangriffen noch häufigen Stromausfällen entmutigen lässt. Zugleich schildert er die Bemühungen der Ukraine, Hallen und Produktionsanalagen, die seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion ungenutzt waren, wiederzubeleben und der Wirtschaft neue Impulse zu geben. Münster gelingt ein eindringliches Szenario unternehmerischer Resilienz, hinter dem andere Herausforderungen der Transformation, wie wir sie kennen, verblassen.
- Laudatorin Michaela Kolster
Den Blick in die Zukunft wagen
Es gibt Tage, die vergisst man nicht. Der 24. Februar 2022 ist so ein Tag. Es ist der Tag an dem für die Ukraine alles anders wird – aber auch für uns ist seitdem vieles anders. Der Krieg ist zurück in Europa und bedroht uns Menschen, unser politisches System, unser tägliches Leben, unsere Versorgung und unsere Wirtschaft.
Dies alles trifft die Menschen in der Ukraine mit einer ungeheuren Wucht. Das normale Leben findet an vielen Stellen ein jähes Ende. Seitdem kämpft das Land mit großer Kraft gegen den übergroßen Gegner. Seitdem ist der Präsident des Landes, Wolodymyr Selenskyj, nur noch in Khaki unterwegs in der westlichen Welt als unermüdlicher Bittsteller für mehr Waffen. Von den Waffen, dem Frontverlauf, von den Kämpfen, vom Alltag der Menschen und von denen, die geflüchtet sind, um Schutz zu suchen, hören wir viel – wovon wir wenig hören, ist die wirtschaftliche Situation.
Dabei ist die essentiell. Seit Beginn des Krieges ist die Wirtschaftsleistung massiv eingebrochen. Vor allem die Stahlindustrie, aber auch Ölraffinerien sind weitgehend zerstört, die Infrastruktur ist nur in Teilen funktionsfähig. Das Bruttoinlandsprodukt ist um rund 30 Prozent gesunken. Deshalb trafen sich Regierungsvertreter, Investoren und Unternehmer aus 61 Ländern in den zwei letzten Tagen in London, um über den Wiederaufbau zu beraten. 400 Milliarden Dollar wird das in den nächsten zehn Jahren kosten, so die Schätzungen.
Aber es ist nicht alles zerstört und die Unternehmen, die es noch gibt, müssen viel Mut aufbringen, sie müssen schnell Entscheidungen treffen, Kreativität ist gefragt und sie müssen den Willen zu Veränderungen mitbringen. Das alles können Unternehmen und Unternehmer in Krisenzeiten – man spricht in diesem Zusammenhang von existentieller Resilienz.
Maximilian Münster hat sich ein solches Unternehmen näher angeschaut. Er erzählt die Geschichte der Firma Poschmaschina, die im April ihre Sachen packt und sich auf den langen Weg vom Osten der Ukraine (man hörte die Einschläge bedrohlich näher kommen) aufmacht nach Lwiw, um zu retten, was zu retten ist, um dem Feind das wertvolle Gut nicht zu überlassen.
Maximilian Münster ist in seiner Reportage ein guter Beobachter. Er kommt den Menschen nah, er beschreibt, was in ihnen vorgeht. Mit kurzen Staccato-Sätzen treibt er seine Geschichte voran. Die Dramatik, das Leid, das alles können wir gut nachvollziehen und gleichzeitig bewundern wir den Mut der Menschen, die nicht aufgeben wollen, nicht klein beigeben wollen gegen Putin – jetzt erst recht, auch wenn der Schmerz oft überwältigend ist.
Anschaulich lässt Münster den Umzug vor unseren Augen real werden: Es geht um riesiges Gerät, Plasmaschneider, Schweißroboter, Schlagscheren – tonnenschwerer Stahl. Vieles musste auseinandergeschraubt werden, in Holz verpackt werden. 30 Eisenbahnwaggons fuhren dann 700 Kilometer in Richtung Westen. Kaum hat man sich eingerichtet, bricht die Nachfrage nach Getreideanhängern ein. Neue Absatzmärkte helfen. Es sind kleine Schritte, die unser Autor hier aufzeigt.
Maximilian Münster beschreibt und beobachtet nicht nur die Menschen. Er hat recherchiert zur wirtschaftlichen Lage in der Ukraine, die kaum Thema ist bei uns, erklärt, dass viele verlassene Industriestandorte im Westen nun wiederbelebt werden und Städte wie Lwiw aufsteigen.
Die größte Hoffnung der Ukraine liegt dabei auf IT-Firmen – bei ihnen werden 30 Prozent Umsatzsteigerung erwartet, trotz Krieg. Die Regierung hilft bei der Suche nach neuen Fabrikhallen, finanziert den Umzug – der von Poschmaschina kostete 40.000 Euro. Mehr als 700 Unternehmen sind umgezogen vom Osten in den Westen. Geld und Flächen werden im Westen des Landes auf dem Silbertablett serviert, erzählt Münster, man muss nur kommen.
Münster wagt damit den Blick in die Zukunft, denn jetzt geht es nicht mehr um ein Weiter-so an anderer Stelle – es geht um den Umbau der Wirtschaft hin zu weiterverarbeitendem Gewerbe. Was Russland zerstört, baut die Ukraine mit tatkräftiger Hilfe des Westens nach dessen Vorbild wieder auf, so Münster. Es sind zarte Pflanzen – aber nicht zuletzt die Wiederaufbaukonferenz in London zeigt: Es gibt viele, die an diesen Umbau glauben.
Diese spannende, berührende und gleichzeitig sehr informative Reportage – erschienen in „brand eins“ Ende Dezember 2022 – zeichnen wir mit Freude mit dem Herbert Quandt Medien-Preis 2023 und mit einem Preisgeld in Höhe von 12.500 Euro aus.
- Maximilian Münster
Herzlichen Dank für die Laudatio. Ich empfinde diesen Preis als eine große Ehre und war überwältigt, als ich die Nachricht bekommen habe. Auch, weil viele Reporterinnen und Reporter, die ich schätze, diesen Preis schon mal entgegengenommen haben. Herzlichen Dank.
Die Recherche in Lwiw in der Ukraine war ohne Zweifel die aufreibendste meines Lebens. Zum ersten Mal habe ich aus einem Kriegsland berichtet. Während der Recherche und danach habe ich viel gegrübelt: Habe ich genug Rücksicht genommen auf die Traumata und Kriegserfahrungen der Menschen, als ich ihnen Fragen stellte? Als sie mir berichteten, wie ihre Heimatstädte zerbombt wurden und ihre Angehörigen erschossen? Stehle ich einem Unternehmen Zeit und Ressourcen, die es gerade braucht, um seinen Alltag zu organisieren?
Die Menschen begegneten mir mit Offenheit. Es schien Ihnen ein Anliegen, vom Leid des Krieges zu berichten, aber vor allem darüber, mit wie viel Ideenreichtum, Widerstandsfähigkeit und Pragmatismus sie den Alltag im Krieg bewältigen. Man muss sich das mal vorstellen: Die russischen Panzer stehen ein paar Kilometer vom Werktor entfernt und in der Produktionshalle werden Maschinen abgebaut, in Kisten verfrachtet und innerhalb weniger Wochen umgezogen. Und kurze Zeit später läuft die Produktion tausende Kilometer weiter im Westen wieder an. In Deutschland würde so ein Umzug doch bestimmt Monate dauern.
Ich danke den Menschen in der Ukraine dafür, dass sie mir vertraut haben: Geschäftsführer Alexander Oskalenko, dem Arbeiter Andrij Schabanytzja und Taras Yeleiko, der die Unternehmen beim Umzug nach Lwiw berät. Und auch meinem Übersetzer Taras Pyts, der heute leider nicht hier sein kann. Gerade weil die Menschen in der Ukraine mir ihr Vertrauen schenkten, empfinde ich den Preis als große Verantwortung. Ich will ihn deshalb nutzen, um Hilfsorganisationen zu unterstützen.
Ich verdanke ihn der Reportageschule Reutlingen, meiner Journalistenschule, mit der ich in die Ukraine gefahren bin. Ohne sie hätte ich wohl nicht gewagt, aus einem Kriegsgebiet zu berichten. Ich lernte, im Ausland zu recherchieren, Unis und Sprachinstitute durchzutelefonieren auf der Suche nach geeigneten Übersetzern, ukrainische Zeitungen zu durchforsten nach Themen, auf die wir hier nicht gucken.
Ich hatte eine falsche Vorstellung von einem Land im Krieg. Da fallen Bomben, ja, aber die Menschen feiern auch, sie heiraten, Unternehmen bauen Maschinen. Der Alltag ist anders, aber er findet statt. Die Reportageschule brachte mir bei, wie wichtig es ist hinzufahren, weil die Realität sich oft anders darstellt. Darum geht es doch beim Reporterdasein: Hinfahren. Journalisten sollten keine Schreibtischtäter werden.
Ich danke den Schulleitern Philipp Maußhardt und Ariel Hauptmeier, die heute leider ebenfalls nicht hier sein können, sowie der Redaktion von „brand eins“ für die gute Betreuung meines Textes.
Und ich danke meinen Eltern, Marlies und Josef Münster, die sich zu Hause in Deutschland um mich sorgten und die mich bei meinem manchmal kühnen Traum, Reporter zu sein, unterstützen.
Sehr geehrte Mitglieder des Kuratoriums, auch Ihnen nochmal herzlichen Dank für die Auszeichnung.
12.500 Euro Preisgeld für Thilo Adam
- Horst von Buttlar (Jury), Thilo Adam, Stefan Quandt (Jury)
Thilo Adam erhält den Quandt Medien-Preis 2023 für sein Unternehmer-Porträt „Wer isst denn sowas?“, erschienen am 02.03.2022 in der Wochenzeitung Die Zeit.
Adam beschreibt einen Tag im Leben des “Royal-Donuts“-Gründers, Enes Șeker. Dessen Geschäftsidee, industriell gefertigte Teigkringel mit quietschbunten Süßwaren zu garnieren, lässt Teenager landauf, landab Schlange stehen. Allen Gesundheitstrends zum Trotz hat Șeker, unterstützt von seiner Familie, in wenigen Jahren ein kleines Franchise-Imperium aufgebaut.
Thilo Adams Text ist Porträt und Milieustudie zugleich. Mit feiner Ironie, aber nicht ohne Anerkennung, zeichnet Adam sein Bild des außergewöhnlichen Unternehmers aus Aachen. Auf unverkrampfte und unterhaltsame Weise schafft Adam Zugänge zu einem Umfeld, das vielen Menschen unvertraut sein dürfte: grell, plakativ – und dennoch Unternehmertum aus eigenem Recht und in seiner ursprünglichen Form.
- Laudator Horst von Buttlar
"Eine Unternehmergeschichte aus dem Bilderbuch"
Die Reportage von Thilo Adam handelt von einem Tag im Leben des Royal-Donuts-Gründers Enes Șeker. „Ein Tag im Leben des“ – das klingt nach großer Literatur, mit der Formel wurden ganze Bücher geschrieben. Was Thilo Adam geleistet hat, ist aber keine Fiktion, sondern mitten aus dem Leben.
Hinter Royal Donuts steht nichts weniger als die Neuerfindung des Donuts: Die Geschäftsidee von Enes Șeker war es, die Teigkringel mit bunten und ausgefallenen Saucen und Süßwaren zu garnieren, ja sie zu tauchen und zu tränken und zu überladen – keine Kreation kann ausgefallen genug sein.
Tja, und die Leute stehen dafür Schlange und rennen dem Aachener Unternehmer die Bude ein. Und allen anderen, die seine Marke als Franchise betreiben. Diese Idee ist nicht Zeitgeist, sie ist nicht gesund, fettfrei, vegan oder nachhaltig – sie ist das Gegenteil. Eben direkt aus dem prallen Leben.
Es gibt Geschichten, die fliegen sich ganz hoch über eine Metaebene ein. Über globale Zusammenhänge, Trends und Technologien. Diese Texte kommen oft mit einer Bugwelle und schieben viel Bedeutung vor sich her. Manchmal zu Recht, manchmal ist das auch einfach nur aufgeblasen – und nicht alles ist immer eine Geschichte, in der die Ungerechtigkeiten der Globalisierung, die weltweite Ungleichheit oder die Kluft zwischen Arm und Reich hinter jedem Komma aufblitzt und erklärt wird.
Es gibt also große Geschichten, die kommen groß daher – und dann gibt es große Geschichten, die kommen so daher, wie sie sind: in Echtzeit, authentisch, einfach mitten aus dem Leben. Ein solcher Text ist Thilo Adam gelungen.
In seiner Mischung aus Porträt und Reportage fängt er Szenen, Zitate und Erlebnisse ein und verdichtet sie zu einem Text, der nie aufgeblasen, nie übertrieben wirkt. Man geht und stolpert mit durch Läden und Küchen, sitzt mit im Auto, man hört zu – man staunt, lächelt oder glaubt seinen Ohren nicht zu trauen.
An vielen Stellen von Thilo Adams Text muss man einfach nur lachen, ja man möchte in die Hände klatschen und niederknien. Und natürlich haben wir uns in der Jury gefragt, ob wir nicht unbewusst auch Enes Șeker mit auszeichnen, der mit seiner erfrischenden Art und seinem Habitus – wir haben es gerade gesehen – auch in einem Spin-off von „4 Blocks“ mitspielen könnte.
Die Geschichte von Herrn Șeker ist eine Unternehmergeschichte aus dem Bilderbuch – Unternehmertum in seiner Reinform: mit Leidenschaft, Wagnis, Risiko, Entscheidungen aus dem Bauch, mit etwas Chaos und viel Kreativität.
Diese Geschichte, sagt Thilo Adam selbst, sei keine Geschichte, die die Welt bewegt, aber sie ist eine dieser Geschichten, aus denen die Welt besteht. Und Thilo Adam versucht nicht, sie künstlich größer zu machen. Ihm gelingt es, sie einzufangen, wie mit einer Handkamera, und in klaren, schnörkellosen Sätzen wiederzugeben.
In Reportagen soll man als Leser sehen, hören, riechen und schmecken. Und das tut man reichlich, wenn man von den Saucen und Zutaten liest, etwa von dem „White-Strawberry Cross“, einem Donut aus Croissantteig mit Vanillecreme, weißer Glasur und gefrorenen Erdbeerscheiben als Topping.
Beeindruckend auch: Der 10.000-Euro-Donut, mit Tonkabohnen-Custard-Füllung,
schwarzer Spiegelglasur und Blattgold-Safran-Akzenten – Verlobungsring und Chauffeur inklusive.
Als Reporter muss es einem gelingen, sich unsichtbar zu machen – damit die Geschichte ohne einen läuft. Gleichzeitig muss man dem Protagonisten Sätze entlocken, die er auch ohne die Geschichte sagen würde, und nicht nur wegen der Geschichte und der Anwesenheit des Reporters. Auch das gelingt Thilo Adam, und hier muss ich zum Schluss eine Passage zitieren:
„In Köln angekommen, sagt er (Enes Șeker): ‚Ich muss mal für kleine CEOs.‘
Das ist ein bisschen kompliziert, denn Damir, der Geschäftspartner vom Saucen-Start-up, wartet in einem Co-Working-Space. Es gibt viel helles Holz, Topfpflanzen – und alle paar Meter eine Glastür, durch die man nur mit Chipkarte kommt.
Es dauert eine Weile, bis Damirs Team Enes von der Toilette in den richtigen Konferenzraum gelotst hat (‚Bruder, warum arbeitet ihr in einem Escape-Room?‘), dann geht es endlich um Geschäftsprobleme. Sie können noch nicht in großen Mengen produzieren, weil nur ein Koch die Chilisaucen so hinkriegt, dass alle Gesellschafter zufrieden sind.
Kernfrage der Runde: Soll man jetzt schon eine große Influencer-Aktion starten? Wenn die gelingt, könnte man durch die gesteigerte Nachfrage sofort in Lieferschwierigkeiten kommen. Bevor es richtig losginge, wäre die Marke beschädigt. Wenn man allerdings das Lager füllt und die Aktion floppt, ist das Konto leer, und sie können direkt wieder dichtmachen.
‚Das ist wie mit Huhn und Henne‘, sagt Damir.
‚Wie Ei und Huhn‘, hilft Jasko.
‚Wie Henne und Ei, Mann‘, Şeker schaut vom Smartphone auf. Er war ein bisschen raus die letzten Minuten, der Tag war lang.“
Thilo, es ist eine besondere Freude für mich, dass ich diese Laudatio halten darf, denn vor wenigen Jahren noch lernten wir uns im Wirtschaftskurs der Henri-Nannen-Schule kennen; ich erinnere nicht, ob Du damals ein großes Interesse an Wirtschaft hattest. Schön, dass Du jetzt so früh schon so weit gekommen bist. Mach so weiter!
Deine journalistische Leistung zeichnen wir mit Freude mit dem Herbert Quandt Medien-Preis und 12.500 Euro Preisgeld aus. Herzlichen Glückwunsch an Thilo Adam!
- Thilo Adam
Es freut mich sehr, dass auch so ein Text ausgezeichnet wird. Für mich persönlich. Sie sind alle super erfolgreich, oder? Deswegen: Ich weiß nicht, ob Sie Selbstzweifel kennen?
Ich habe die manchmal und mir geht es eigentlich immer so, wenn ich einen Text geschrieben habe, dass ich hinterher ganz viele Dinge zu kennen, erkennen glaube, die nicht so gelungen sind, und es geht mir auch bei diesem Text so.
Aber jetzt, wo ich Horsts Laudatio gehört habe, denke ich eigentlich: Ja, schon ganz verdient.
Also danke für diesen Selbstbewusstseins-Booster, der mich noch nicht in Enes’ Sphären bringt, glaube ich. Aber ich bin sehr froh und dankbar, dass ich ihn kennengelernt habe und diese ganze Crew, mit der er da unterwegs ist, und dass sie irgendwann so diese Fassade runtergelassen haben – sie sind ja eigentlich selber immer auf Sendung auf Instagram und Co.
Und das ist, glaube ich, für uns Journalisten ein neues Problem: dass wir da mit Protagonistinnen und Protagonisten zu tun haben, die eigentlich uns nicht brauchen für Reichweite und dann manchmal aber doch dafür bereit sind.
Und das zu schaffen, wird uns, glaube ich, noch viel beschäftigen und deswegen bin ich sehr dankbar, dass sie das in dem Moment zugelassen haben.
Ich bin einfach froh, dass das jetzt so geklappt hat. Ich kannte den Herbert Quandt Medien-Preis vorher ehrlich gesagt gar nicht. Meine Freundin, der ich sehr dankbar bin, hat mir den Tipp gegeben, den Text da einzureichen, weil das doch passen könnte.
Ich war dann sehr panisch, als der Anruf von Herrn Appelhans kam, dass das jetzt geklappt habe, und dann hat man ja auch so Gedanken wie: „Darf ich das überhaupt annehmen?“ Weil das so ein Preis ist von Menschen, die Interessen haben, und ich Journalist bin, der sich da vielleicht nicht vereinnahmen lassen sollte. Und dann fängt man panisch an Dinge zu googeln: „Preisgeld versteuern, wie?“ oder: „Johanna-Quandt-Stiftung seriös, Fragezeichen“.
Am Ende war ich beruhigt und habe von vielen anderen Menschen, Ex-Preisträgern und anerkannten Journalistinnen und Journalisten, gehört, dass man das ganz bedenkenlos machen darf.
Und das mache ich jetzt hiermit. Vielen, vielen Dank.