"Industrie 4.0 ist die digitale Zukunft von Made in Germany"
Meine sehr geehrten Damen und Herren,
die diesjährige Medienpreisverleihung fällt wieder einmal in die Zeit eines großen sportlichen Ereignisses. Diesmal ist es die Fußball-Europameisterschaft in Frankreich. Wenn man solche sportlichen Wettbewerbe verfolgt, dann sind es oft kreativ denkende und klug vorausschauende Spieler, die den Unterschied zwischen Sieg und Niederlage, zwischen Erfolg und Misserfolg ausmachen. Spieler wie Thomas Müller, der sich selbst einmal – wie ich finde sehr treffend – als „Raumdeuter“ bezeichnet hat. Denn er sieht auf dem Platz freie Räume nicht nur, sondern er erkennt auch intuitiv, welche Möglichkeiten dieser freie Raum bietet und wo er sich deshalb am besten positionieren sollte.
Die gleiche Fähigkeit hat einmal der Kanadier Wayne Gretzky – the „Great One“ mit der Rückennummer 99 und für viele bis heute der beste Eishockeyspieler der Welt – mit anderen Worten wie folgt beschrieben:
„Die meisten Spieler sind ziemlich gut, aber sie laufen dahin, wo der Puck ist. Ich laufe dahin, wo der Puck sein wird.“
Freiräume deuten und als Erster dort sein, wo das Spiel entschieden wird – das ist aber nicht nur im Sport eine hilfreiche Eigenschaft. Die Fähigkeit zur Antizipation entscheidet auch über die Zukunftsfähigkeit von Wirtschaftsunternehmen, aber auch von Staaten und Regionen.
Dies gilt zum Beispiel für das Thema natürlicher Ressourcen, dem sich einzelne Länder aus industriepolitischen Interessen heraus annehmen und über das ich vor zwei Jahren an dieser Stelle gesprochen habe. Und es gilt auch für den Fokus meiner letztjährigen Begrüßungsrede, dem Kampf um die Kundenschnittstelle, der zwischen verschiedenen Industriezweigen und Unternehmen im Gange ist, weil Kundennähe und -verständnis vielleicht ‚der‘ Schlüssel zum Erfolg in der digitalen Welt sein wird.
Und wenn man sich aus diesem Blickwinkel – also der Notwendigkeit zur Antizipation zukünftiger Entwicklungen - den Transformationsdruck ansieht, den die Digitalisierung auf etablierte Industrien ausübt, landet man unweigerlich bei dem Schlagwort „Industrie 4.0“.
Denn derzeit ist die intelligente, voll vernetzte Fabrik in aller Munde. Der Chiphersteller Intel geht in einer Studie davon aus, dass die Unternehmen bis zum Jahr 2020 über 2 Billionen Dollar in smarte Fabriken investieren. Ob in Politik, Medien, Wissenschaft oder Wirtschaft – überall werden Visionen eines neuen industriellen Zeitalters entworfen.
Der Begriff einer „Revolution“ und die Rede vom disruptiven Charakter eines „vierten industriellen Zeitalters“ tragen dabei wohl maßgeblich zum aktuellen Hype bei. Allerdings ist bei Lichte betrachtet Industrie 4.0 als Vernetzung von Maschinen und Daten weder ein Naturereignis noch ein spontaner Durchbruch, sondern eher ein kontinuierlicher, allerdings sehr schnell ablaufender Prozess.
Die sich ergebenden Potenziale im Hinblick auf Effizienz, Individualität und Schnelligkeit sind gerade für die klassische Domäne der deutschen Industrie, den Maschinen- und Anlagenbau, beeindruckend. Einige Beispiele:
- Mit dem Einzug des Internets in die Produktion steuern sich intelligente Produkte eigenständig.
- Bauteile werden zu Informationsträgern und stellen ihre Daten mobil und in Echtzeit zur Verfügung.
- Werkzeugmaschinen fangen an, sich untereinander auszutauschen und handeln miteinander die nächsten Produktionsschritte aus.
- Roboter übernehmen ihre Aufgaben zunehmend in „gemischten Teams“ aus Menschen und Maschinen.
Mit Schlagworten wie Big Data, Sensorik, 3D-Druck, Robotik, Virtuelle Realität und Cloud stehen produzierende Unternehmen mit ihren Fach- und Führungskräften vor großen Veränderungen und Herausforderungen. Noch gibt es keine Standards. Aber eins ist klar: Die digitale Fitness der deutschen Industrie wird im globalen Wettbewerb zum entscheidenden Faktor.
Leider hat der Begriff Industrie 4.0 hierzulande noch ein Image-Problem: Nach einer aktuellen Umfrage finden 93 Prozent der Befragten den Begriff „Made in Germany“ sympathisch - aber nur 19 Prozent bringen für „Industrie 4.0“ Sympathie auf. Das mag nicht verwundern, wenn man sich die offizielle Definition des von der deutschen Akademie der Technikwissenschaften acatech eingeführten Begriffs „Industrie 4.0“ ansieht. Der Lenkungskreis der Plattform Industrie 4.0 formuliert dazu wie folgt:
„Der Begriff Industrie 4.0 steht für die vierte industrielle Revolution, einer neuen Stufe der Organisation und Steuerung der gesamten Wertschöpfungskette über den Lebenszyklus von Produkten. Dieser Zyklus orientiert sich zunehmend an den individualisierten Kundenwünschen und erstreckt sich von der Idee, dem Auftrag über die Entwicklung und Fertigung, die Auslieferung eines Produkts an den Endkunden bis hin zum Recycling, einschließlich der damit verbundenen Dienstleistungen."
Diese Definition ist sicher sehr präzise, aber auch etwas sperrig, finden Sie nicht? Und emotionalisierend und motivierend klingt sie schon gar nicht. Wenn wir aber eine Aufbruchsstimmung kreieren wollen, muss es etwas „Griffigeres“ sein und ein Ziel formulieren. Lassen Sie es mich daher mit einer anderen Definition versuchen – wie wäre es mit:
„Industrie 4.0 ist die digitale Zukunft von ,Made in Germany‘.“
Warum ich diese Definition trotz ihrer Kürze zudem für richtig halte, möchte ich Ihnen kurz erläutern. Zunächst: Es liegt auf der Hand, dass gerade für Deutschland eine starke Position bei Industrie 4.0 absolut unverzichtbar ist:
- Unsere Wirtschaft wird von einer starken industriellen Basis getragen.
- Das verarbeitende Gewerbe erwirtschaftet fast 23 Prozent der gesamten Wertschöpfung unseres Landes – fast doppelt soviel wie bei anderen Industrieländern.
- Mit unseren Exporten erreichen wir regelmäßig Rekordwerte und sind gemessen am Offenheitsgrad – also Importe plus Exporte in Relation zum BIP – die „offenste“ Volkswirtschaft der G7-Staaten.
Dieses sind Fakten und darauf können wir mit Industrie 4.0 auch gut aufbauen.
Und an vielen Stellen tun wir dies bereits. Ein Beispiel: In den BMW-Werken in Dingolfing, Regensburg und Spartanburg arbeiten Menschen und Roboter in gemischten Teams Seite an Seite. Die Roboter kommen raus aus ihren Schutzkäfigen und übernehmen in einer direkten und nahtlosen Mensch-Maschine-Kooperation als sogenannte „Cobots“ Tätigkeiten, die für den Werker ergonomisch belastend und kräftezehrend sind.
Ein weiteres Beispiel: In Detroit schweißt der deutsche Roboterhersteller KUKA Karosserien für einen amerikanischen Autokonzern. Klingt klassisch. Aber in diesem Fall hat sich das Geschäftsmodell von KUKA umgekehrt: Das Unternehmen verkauft nicht mehr seine Roboter, sondern die Produktionsleistung seiner Roboter an die Firma. Bezahlt wird nach Stückzahl der hergestellten Karosserien. Künftig, so der KUKA-Vorstandsvorsitzende Till Reuter, wird das Unternehmen seine Roboter nur noch vermieten und über die Cloud überwachen und warten.
Doch sind dies im Grunde nur Vorphasen eines neuen Layouts in der industriellen Fertigung. In der Fabrik der Industrie 4.0 sind Bauteile auch gleichzeitig Informationsträger. Produkte und Produktionsmittel kommunizieren miteinander und sind vollständig vernetzt: Dies ermöglicht eine deutlich effizientere Gestaltung der Wertschöpfungskette über den gesamten Lebenszyklus von Produkten. Dabei flexibilisiert Industrie 4.0 nicht nur die Produktion, sondern wirkt sich auch auf Logistik, Einkauf, Entwicklung, Vertrieb und andere Wertschöpfungsstufen aus.
Aber es gibt natürlich auch kritische Stimmen. Es wird gewarnt, dass Produktionsrisiken nun nicht mehr allein bei den Herstellern liegen. Andere sehen eine weitverbreitete Ratlosigkeit angesichts der Frage, wie Big Data in Produkte und Prozesse überführt werden kann. Auch die Frage nach der Qualität der Daten von Wertschöpfungsketten wird aufgeworfen: Besonders kleine und mittelständische Unternehmen seien mit dieser Frage überfordert – auch, weil es bisher nur vereinzelt Standards und definierte Schnittstellen gibt.
Meine sehr geehrten Damen und Herren,
Zwei Fragen drängen sich deshalb aus meiner Sicht auf:
- Wo stehen wir derzeit als deutsche Industrie auf dem Weg zur Industrie 4.0?
- Welche Voraussetzungen benötigen wir, um die Transformation zu gestalten und Industrie 4.0 dauerhaft und erfolgreich in den Unternehmen zu etablieren?
Zunächst: Wo stehen wir? Eine neue Studie des VDMA hebt hervor, dass Industrie 4.0 als Thema im deutschen Maschinen- und Anlagenbau angekommen ist. Neun von zehn Unternehmen, die sich intensiv mit Industrie 4.0 beschäftigen, sehen darin die Möglichkeit, sich am Markt zu differenzieren. Dennoch zählt bei den Unternehmen nur der relativ kleine Anteil von 5,6 Prozent bereits zu den Pionieren bei der Umsetzung entsprechender Konzepte und Technologien. Mit 76,5 Prozent hat die überwiegende Mehrheit der deutschen Unternehmen bisher noch keine systematischen Schritte zur Umsetzung von Industrie 4.0 unternommen.
Und das bringt mich zu der Frage, welche Voraussetzungen wir eigentlich benötigen, um die digitale Transformation unserer Industrie aktiv zu gestalten und voranzubringen.
Ein erster Schritt ist, dass wir unsere geistige Vorstellung von Industrie adjustieren und an die Gegenwart anpassen. Dies ist in Deutschland vielleicht schwieriger als in anderen Ländern. Ich habe des Öfteren den Eindruck, viele von uns verstehen unter „Industrie“ häufig immer noch „rauchende Schlote“, während im Rest der Welt das Verständnis eher in Richtung „Branche“, „Gewerbe“ oder auch „Geschäft“ geht.
Zweitens müssen wir uns dafür sensibilisieren, wie entschlossen andere Nationen mit diesem Zukunftsthema umgehen. Viele Länder haben die Chancen von Industrie 4.0 bereits voll im Visier, allen voran – auch bei diesem Thema wieder - China. Im Beschluss des chinesisches Staatsrats „Made in China 2025“ heißt es:
“We will develop the ‘Internet Plus’ action plan to integrate the mobile Internet, cloud computing, big data, and the Internet of Things with modern manufacturing …”
Wie engagiert sich China auf das Thema Industrie 4.0 – oder nach chinesischer Lesart „Internet Plus“ - einlässt, zeigt der jüngste Übernahmeversuch im deutschen Maschinenbau: KUKA steht wie kaum ein anderes Unternehmen für die digitale Zukunft von „Made in Germany“. Der chinesischen Staatsregierung ist sonnenklar, dass China den Vorteil niedriger Lohnkosten nicht mehr lange halten kann – andere Länder wie etwa Nordkorea öffnen sich langsam und punkten mit Billiglöhnen. Umso wichtiger ist es für China, die steigenden Lohnkosten mit einer Erhöhung der Produktivität wettzumachen. Dies geht aber nur, wenn veraltete Fabriken und Produktionsanlagen im 21. Jahrhundert ankommen.
Drittens: Die Digitalisierung gibt uns die Gelegenheit, uns wieder neu auf die technologischen Stärken unserer Industrie zu besinnen. Egal, ob dabei Losgröße 1 – also ein individuelles Produkt nach Wunsch des Kunden – oder eine großserielle Fertigung gefragt ist: Wir haben die enorme Chance, mit unseren Kompetenzen in Konzeption und Fertigung die Digitalisierung entscheidend mitzugestalten.
Die Geschäftsmodelle der amerikanischen Digitalwirtschaft wenden sich vor allem an die Konsumenten. Aber die Produktionsseite wird immer noch stark von deutschen Unternehmen geprägt. Oder, wie es ein Familienunternehmer in einer Reportage der Süddeutschen Zeitung durchaus selbstbewusst auf den Punkt bringt:
„Die Amerikaner haben das Internet, aber wir haben die Dinge.“
Wir haben den Fabriken der Welt also einiges zu bieten. Welche Vorrausetzungen benötigen wir, damit wir aus unseren Möglichkeiten noch mehr machen können, und den internationalen Wettbewerb im Feld der Digitalisierung noch etwas besser verstehen?
Zunächst stellt die Digitalisierung natürlich hohe Anforderungen an unser Bildungssystem. Dies wird augenfällig, wenn wir uns die Entwicklungsschritte der digitalen Vernetzung und die damit verbundenen Effekte in Erinnerung rufen:
- 1995 – also vor nur rund 20 Jahren - wurden über das Web 1.0 und seine Hyperlinks Dokumente vernetzt.
- 2000 kam über Web 1.0 die Vernetzung von Medien – das sogenannte Multimedia – hinzu.
- 2004 brachte uns als Web 2.0 mit der Gründung von Facebook die Vernetzung von Menschen – Social Media war geboren.
- 2010 schloss die Vernetzung von Unternehmen als Web 3.0 daran an.
- Und 2015 schließlich brachte uns die bisher höchste Form der Vernetzung: Cyber-physische Systeme als Verbund von Software, Mechanik und Elektronik, die über das Internet kommunizieren – womit wir bei Industrie 4.0 angekommen sind.
Dieser gewaltige Entwicklungsschub in gerade einmal zwei Dekaden wird nicht nur Konsequenzen haben im Hinblick auf das „Wie“, sondern auch auf das „Mit welcher Qualifikation“ wir arbeiten. Der VDMA prophezeit, dass viele neue Berufsbilder durch Industrie 4.0 geschaffen werden können. Umso bedenklicher muss erscheinen, was eine Studie der Universität Hohenheim jüngst ergeben hat: Für 29 Prozent der befragten Unternehmen spielt Industrie 4.0 keine Rolle in der Weiterbildung. Für 38 Prozent ist Industrie 4.0 sogar in der Erstausbildung irrrelevant.
Wir brauchen daher eine gemeinsame Anstrengung von Industrie und allen Partnern in der Beruflichen Bildung, um eine moderne und zeitgemäße Ausbildung von Fachkräften zu gewährleisten.
Denn ob Facharbeiter oder Akademiker – die Entwicklung von neuen Arbeits-Kompetenzen ist unverzichtbar. Facharbeiter müssen Maschinen lesen und flexibel anleiten können. Ingenieure benötigen Softwarekenntnisse und Kaufleute werden sich in den Unternehmen zunehmend mit immateriellen Assets und neuen Kreditformen beschäftigen. Und dies alles nicht nur auf der Ebene des einzelnen Unternehmens, sondern im Netzwerk der Wertschöpfung von Industrie 4.0.
Meine sehr geehrten Damen und Herren,
„Wettbewerbsfähig wird in der globalisierten Wirtschaft nur derjenige sein, der die mit der Digitalisierung verbundenen Wertschöpfungschancen rechtzeitig nutzt.“
Dieses Zitat stammt nicht etwa von einem DAX30-Vorstand oder dem Wirtschaftsminister. Vielmehr hat Wolfgang Huber, der ehemalige EKD-Vorsitzende, diese deutlichen Worte vor dem Hintergrund der Digitalisierung an Industrie und Politik gerichtet. Daraus wird erkennbar, dass wettbewerbsfähig zu sein und zu bleiben nicht nur industrie- oder wettbewerbspolitisch geboten ist. Sondern dass dieses Ziel in Deutschland auch eine gesellschaftspolitische Aufgabe für Unternehmer und Unternehmen, aber auch für alle anderen Stakeholder unserer Gesellschaft darstellt.
Die Digitalisierung und die damit verknüpften Innovationen können dazu beitragen, den Wohlstand unseres Landes zu erhalten und weiter zu kräftigen. Die Chancen, die sich aus der Digitalisierung für Deutschland ergeben, stehen wahrlich nicht schlecht – schließlich haben wir „die Dinge“. Um unsere Chancen zu nutzen, müssen wir jedoch – um es mit den eingangs verwendeten Bildern zu sagen - bereits heute die Freiräume richtig deuten, die durch neue Technologien entstehen. Und wir müssen uns gemeinsam schnellstmöglich dorthin bewegen, wo der Puck im großen Spiel Industrie 4.0 in nicht allzu ferner Zukunft sein wird.
Sehr verehrte Damen und Herren,
leider kann ich Ihnen nicht genau sagen, in welche Richtung Sie dazu ab morgen am besten laufen sollen. Aber immerhin weiß ich, wohin ich am heutigen Abend meinen nächsten Pass spielen sollte. Und so möchte ich nun überleiten zu dem eigentlichen Zweck des Abends, der Verleihung des Herbert Quandt-Medienpreises 2016. Aufgrund der Veränderungen im Kuratorium gibt es heute in diesem Zusammenhang ein Debut, denn Herr Horst von Buttlar wird anschließend erstmalig die Laudatio halten. Ein Debut für den Medien-Preis ist dies aber auch dahingehend, dass erstmalig ein ehemaliger Preisträger die Laudationes quasi auf seine „Nachfolger“ spricht.
Sehr geehrter Herr von Buttlar, Sie haben bei den Entscheidungen des Kuratoriums der Johanna Quandt-Stiftung mitgewirkt, wissen aber auch, worüber man sich als Preisträger besonders freut. Wir sind deshalb gespannt, wie Sie beide Blickwinkel in Worte gefasst haben. Wir freuen uns auf Ihre Laudatio.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.